Zur Lage der Union 2023 - Kernpunkte der Rede von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
Am 13. September 2023 hielt die Präsidentin der Europäischen Kommission im Europäischen Parlament (Straßburg) ihre Rede zur Lage der Union. Es ist zu einer jährlich wiederkehrenden Tradition geworden, über die aktuelle Lage zu berichten, die zentralen Herausforderungen für Europa im kommenden Jahr anzusprechen sowie die Vorschläge der Europäischen Kommission zu deren Lösung zu präsentieren. In diesem Zusammenhang werden auch neue Rechtsvorschriften und politische Maßnahmen auf EU-Ebene vorgeschlagen.
Flankiert von der europäischen Flagge (blau mit 12 goldenen Sternen) präsentierte Präsidentin von der Leyen ihre Rede „Europa stellt sich seinem historischen Auftrag“. Traditionell war die Rede hauptsächlich auf Englisch, mit einigen Passagen auf Deutsch und Französisch.
Die Präsidentin ermutigt die europäischen Institutionen und Mitgliedstaaten, sich den Herausforderungen der heutigen Zeit zu stellen, von Geopolitik, Klimawandel, digitaler Wandel, Investitionen in und die Reform der Arbeitsmärkte, Aufbau einer Gesundheitsunion, Arbeit zur Gleichstellung der Geschlechter, Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, bis hin zur Migrationskrise und der Erweiterung der Europäischen Union.
Im Folgenden habe ich einige Kernaussagen dieser für europäische Unternehmen spannenden Rede zusammengefasst:
Der Europäische Grüne Deal
Die EU hat die langfristige Richtung vorgegeben, unseren Planeten zu schützen und unseren künftigen Wohlstand durch Investitionen und Innovation zu erhalten.
Die europäische Industrie zeigt Tag für Tag ihre Bereitschaft, diesen Übergang voranzubringen, und beweist, dass Modernisierung und Dekarbonisierung Hand in Hand gehen können: In den letzten fünf Jahren ist die Zahl sauberer Stahlfabriken in der EU von null auf 38 gestiegen. Die EU zieht mehr Investitionen in sauberen Wasserstoff an als die USA und China zusammen.
Die EU wird die europäische Industrie während des gesamten Übergangs begleiten. Mit einer Serie von Energiewende-Dialogen mit der Industrie soll jeder Sektor gezielt bei der Entwicklung seines Geschäftsmodells für die Dekarbonisierung der Industrie unterstützt werden. Der Übergang ist für unsere künftige Wettbewerbsfähigkeit, für die Menschen und ihre Arbeitsplätze unerlässlich.
Die Kommission wird gemeinsam mit der Industrie und den Mitgliedstaaten ein Paket für die Windkraft in Europa vorlegen (beschleunigte Genehmigungsverfahren, verbesserte Auktionssysteme in der gesamten EU, Sicherstellung des Zugangs zu Finanzmitteln und stabile Lieferketten).
Ganz generell muss die Zukunft unserer Clean-Tech-Industrie (von Windkraft bis Stahl, von Batterien bis zu Elektrofahrzeugen) in Europa liegen. In diesem Zusammenhang unterstreicht die Präsidentin die Bedeutung von Fairness in der Weltwirtschaft und den Kampf gegen Chinas unfaire Handelspraktiken. Europa ist zwar offen für Wettbewerb, aber nicht für einen ungleichen Unterbietungswettlauf. In diesem Zusammenhang wird die Kommission eine Antisubventionsuntersuchung zu Elektrofahrzeugen aus China einleiten.
Die Präsidentin bekräftigt, dass Natur, biologische Vielfalt und Ökosysteme geschützt werden müssen. In diesem Zusammenhang wird die Kommission einen strategischen Dialog zur Zukunft der Landwirtschaft in der EU starten. Landwirtschaft und Naturschutz gehen zusammen – „wir brauchen beides“, so die Botschaft. Gleichzeitig dankt die Präsidentin den europäischen Landwirten für die Sicherung der Lebensmittelversorgung und plädiert für eine wirksame Unterstützung dieses Sektors, der mit dem Klimawandel und den Folgen der russischen Aggression gegen die Ukraine konfrontiert ist.
Wirtschaft, Soziales und Wettbewerbsfähigkeit
Die Präsidentin sieht drei große wirtschaftliche Herausforderungen für die europäische Industrie im kommenden Jahr:
- den Arbeitsmarkt: Der Arbeitskräftemangel wirkt sich unmittelbar auf unsere Wettbewerbsfähigkeit aus und bremst Innovationsfähigkeit, Wachstum und Wohlstand. Daher muss der Zugang zum Arbeitsmarkt für junge Menschen, Frauen und qualifizierte zuwandernde Arbeitskräfte verbessert werden. Die Präsidentin möchte sich auf die Expertise der Tarifpartner (Unternehmen und Gewerkschaften) stützen, um auf den tiefgreifenden technologischen, gesellschaftlichen und demografischen Wandel zu reagieren. Zu diesem Zweck wird die Kommission, gemeinsam mit dem belgischen Ratsvorsitz, im nächsten Jahr einen Gipfel mit den Sozialpartnern an einem historischen Ort (in Val Duchesse, dem Ort, an dem der europäische soziale Dialog vor fast 40 Jahren ins Leben gerufen wurde) einberufen. Ziel ist es, die Zukunft Europas mit und von unseren Sozialpartnern aufzubauen.
- die anhaltend hohe Inflation: Die Präsidentin möchte das erfolgreiche Modell der Bündelung unserer Nachfrage und der gemeinsamen Energiekäufe auf andere Bereiche, wie kritische Rohstoffe oder sauberen Wasserstoff, übertragen.
- den europäischen Unternehmen ihre Tätigkeit erleichtern: Es wird ein KMU-Beauftragter der EU ernannt, der in direktem Kontakt mit den kleinen und mittleren Unternehmen über ihre täglichen Herausforderungen sprechen und der Präsidentin direkt Bericht erstatten soll. Ein unabhängiger Ausschuss wird jeden neuen EU-Rechtsakt einem Wettbewerbsfähigkeits-Check-up unterziehen. Und es wird Legislativvorschläge geben, um die Meldepflichten auf EU-Ebene um 25 % zu reduzieren. Die Mitgliedstaaten sollten motiviert werden, dieses Ziel auch auf nationaler Ebene zu erreichen. Es ist an der Zeit, den Unternehmen in Europa ihre Tätigkeiten zu erleichtern - eine Botschaft, auf die die europäische Wirtschaft schon lange gewartet hat.
Die Sicherung des Zugangs zu Schlüsseltechnologien ist für europäische Unternehmen von zentraler Bedeutung und eine Frage der europäischen Souveränität. Zu diesem Zweck sollten mit zusätzlichen Haushaltsmittel für die Europäische Kommission Investitionen in Schlüsseltechnologien (Mikroelektronik, Quanteninformatik, KI, Biotechnologie und saubere Technologien) mobilisiert, gehebelt und gesteuert werden.
Europa muss auch die wirtschaftliche Sicherheit erhöhen (man denke nur an die chinesischen Exportbeschränkungen für Gallium und Germanium, zwei wichtige Ausgangsstoffe für Halbleiter und Solarpaneele). Ziel ist es, Risiken zu mindern, sich aber nicht abzukoppeln und den Dialog mit China aufrechtzuerhalten. Es wird ein erstes Treffen des neuen Clubs für kritische Rohstoffe geben, bei dem Lateinamerika und Afrika mit an Bord sind. Verschiedene Freihandelsabkommen sollen noch in diesem Jahr abgeschlossen werden (Australien, Mexiko und Mercosur).
Mario Draghi wird einen Bericht über die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit erstellen. Europa wird tun, „was immer nötig ist“, um seinen Wettbewerbsvorteil zu halten.
Digitaltechnologie und KI
Europa hat sich zum weltweiten Vorreiter bei den Bürgerrechten in der digitalen Welt entwickelt (der Rechtsakt über digitale Dienste und der Rechtsakt über digitale Märkte schaffen einen sichereren digitalen Raum und klare Verantwortlichkeiten für Big Tech). Und Europa sollte zusammen mit seinen Partnern den Weg zu einem neuen globalen Rahmens für KI vorgeben, der auf drei Säulen beruht:
- Leitplanken: Das KI-Gesetz sollte rasch verabschiedet werden, um sicherzustellen, dass sich die KI auf eine menschenzentrierte, transparente und verantwortungsvolle Weise entwickelt.
- Governance: Die Präsidentin schlägt ein globales Gremium (ähnlich dem Weltklimarat) vor, bei dem Wissenschaft, Technologieunternehmen und unabhängige Experten an einem Tisch sitzen und der Politik die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Verfügung stellen.
- Verantwortungsvolle Steuerung von Innovationen: KI-Startups werden Zugang zu Europas drei Hochleistungscomputern erhalten, um ihre Geschäftsmodelle zu erproben. Es braucht überdies einen offenen Dialog auf globaler Ebene mit denjenigen, die KI entwickeln und einsetzen, um globale Mindeststandards für eine sichere und ethische KI-Nutzung zu definieren.
Globales, Migration und Sicherheit
Europa möchte mit den Schwellenländern zusammenarbeiten und ihnen ein transparenteres, nachhaltigeres und wirtschaftlich attraktiveres Modell der Zusammenarbeit bieten (Global Gateway).
Eine Säule ist der Wirtschaftskorridor Indien – Naher Osten – Europa mit der Aussicht auf einen wesentlich schnelleren Handel zwischen Indien und Europa, ein Stromkabel und eine Pipeline für sauberen Wasserstoff sowie ein Hochgeschwindigkeits-Datenkabel.
Die Präsidentin drängt auch darauf, dass Bulgarien und Rumänien in den Schengen-Raum aufgenommen werden und das Paket zur Lösung der Migrationsfrage abgeschlossen wird.
Ukraine und andere Nachbarländer
Europa wird der Ukraine bei jedem Schritt auf ihrem Weg zur Seite stehen. So lange wie nötig. Es wurden bereits 12 Mrd. EUR bereitgestellt, um soziale und andere öffentliche Dienste am Laufen zu halten und Löhne und Renten zu zahlen. Die Munitionsproduktion für die Ukraine wird hochgefahren. Die Europäische Kommission schlägt außerdem die Bewilligung von weiteren EUR 50 Milliarden über vier Jahre für Investitionen und Reformen vor.
In einem breiteren Kontext fordert die Präsidentin dazu auf, an der Vollendung unserer Europäischen Union zu arbeiten, indem wir sie um die Ukraine, die westlichen Balkanländer, Moldawien und Georgien erweitern. Dies liegt auch im strategischen und sicherheitspolitischen Interesse Europas. Der Weg dorthin wird nicht einfach, und der Beitritt beruht auf Leistung. Um die Union für die Erweiterung fit zu machen (abgesehen von Änderungen des EU-Vertrags), wird die Kommission Politikfelder im Vorfeld der Erweiterung überprüfen, die künftige Funktionsweise im Europäischen Parlament und in der Kommission sowie die Zukunft des EU-Haushalts überlegen und sich klar werden müssen, wie in einer Welt, in der Abschreckung mehr denn je zählt, glaubhaft Sicherheit garantiert werden kann. Die Zeit für Europa ist gekommen, wieder im großen Maßstab zu denken und das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Fazit
Die Zukunft unseres Kontinents hängt von unseren heutigen Entscheidungen ab. Es ist an der Zeit, einen Kontinent für die junge Generation aufzubauen, der mit der Natur versöhnt und bei der Entwicklung neuer Technologien führend ist, einen Kontinent, der in Freiheit und Frieden geeint ist.
Die Rede zur Lage der Nation kann im Original und in den jeweiligen Sprachfassungen abgerufen werden (zum Download hier).
---
„Es lebe Europa!“ Das war (mal wieder) das Ende ihrer Rede und soll auch meinen Beitrag abschließen.
Hinweis: Dieser Blog stellt lediglich eine generelle Information und keineswegs eine Rechtsberatung von Binder Grösswang Rechtsanwälte GmbH dar. Der Blog kann eine individuelle Rechtsberatung nicht ersetzen. Binder Grösswang Rechtsanwälte GmbH übernimmt keine Haftung, gleich welcher Art, für Inhalt und Richtigkeit des Blogs.